Die Märchenschatzkiste
Eines Tages beschloss Anansi, der
Spinnenmann, die Märchenschatzkiste zu erwerben, die der Himmelsgott
Nyami neben seinem Thron aufbewahrte. Alle Märchen und Geschichten der
Welt befanden sich darin, und Anansi liebte Geschichten über alles.
So wob er ein großes Netz, das von
der Erde bis zum Himmel reichte, kletterte hinauf und trat vor Nyamis
Thron. Neben dem Thron erblickte er die große, kunstvoll geschnitzte und
verzierte Schatzkiste. Er zeigte darauf und sagte: "Ich will die
Märchenschatzkiste von dir erwerben!"
Nyami schaute den Spinnenmann an und antwortete: "Dann wirst du den Preis dafür bezahlen müssen!"
Darauf brach er in schallendes Gelächter aus, und alle, die ihn umgaben, lachten ebenfalls lauthals.
Anansi aber erwiderte ruhig: "Nenne mir den Preis!"
Da sprach Nyami: "So bringe mir
vier Lebewesen: Onini, die Pythonschlange, Osebo, den Leoparden, Moboro,
die Hornisse, und Mmoatia, die unsichtbare Fee!"
Und wieder lachten sie alle schallend, denn wie sollte der Spinnenmann das vollbringen?
Anansi aber antwortete: "Ich werde sie dir bringen!"
Er kletterte zurück zur Erde und ging zu Aso, seiner klugen und geduldigen Frau.
"Aso", sagte er, "ich muss Onini, die Pythonschlange, zum Himmel bringen. Weißt du mir einen Rat?"
Aso überlegte kurz, dann antwortete sie: "Suche dir eine lange Liane."
"Danke, das genügt", antwortete Anansi. "Nun weiß ich, was ich zu tun habe."
Er suchte eine lange
Schlingpflanze und rollte sie auf. Dann ging er damit durch den Urwald
und sagte: "Sie ist länger. Nein, sie ist kürzer! Nein, sage ich dir,
sie ist länger! Nein kürzer!"
Das hörte Onini, die
Pythonschlange. Sie kroch heran und fragte: "Mit wem sprichst du,
Anansi?" "Meine Frau Aso und ich, wir haben einen Streit", antwortete
der Spinnenmann. "Aso behauptet, dass diese Liane hier länger ist als
du, und ich meine, sie ist kürzer. Vielleicht könntest du dich am
Flussufer in deiner vollen Länge ausstrecken? Ich würde dann die Pflanze
neben dir ausrollen, und wir könnten unseren Streit sehr rasch
entscheiden."
Onini, die Pythonschlange, war
gerne dazu bereit. Sie kroch ans Flussufer und streckte sich in ihrer
vollen Länge aus. Anansi aber rollte nun die Liane nicht aus, sondern er
schlang sie blitzschnell um Onini und zog sie fest. "Wuinn! Wuinn!
Wuinn!'" klang das Zuziehen der Knoten.
Nun war Onini, die Pythonschlange,
gefangen, und Anansi brachte sie zum Himmel und vor Nyamis Thron. Der
Himmelsgott legte seine Hand auf die Pythonschlange und sprach: "Was
meine Hand berührt hat, das hat sie berührt. Was meine Hand noch nicht
berührt hat, das fehlt noch!"
Anansi nickte und kletterte zurück
zur Erde. Er ging wieder zu seiner Frau Aso und sagte: "Nun muss ich
Osebo, den Leoparden, zum Himmel bringen. Weißt du mir einen Rat?"
"Grabe ein tiefes Loch", antwortete die Spinnenfrau.
"Danke, das genügt", unterbrach sie Anansi. "Ich weiß nun, was ich zu tun habe."
Er ging zur Wasserstelle, bei der
Osebo, der Leopard, immer zu trinken pflegte, und grub mitten auf der
Fährte des Raubtieres ein tiefes Loch. Er bedeckte die Grube mit Zweigen
und Blättern, suchte sich wieder eine lange Schlingpflanze und verbarg
sich dann im dichten Unterholz.
Osebo, der Leopard, war auf seinem Weg zur Wasserstelle noch nie auf eine Grube gestoßen, und so tappte er in Anansis Falle.
Nun kam Anansi aus seinem Versteck
hervor, schaute über den Rand der Grube in die Tiefe und fragte mit
gespieltem Erstaunen: "Was machst du denn da unten?"
"Ich bin in dieses tiefe Loch gefallen und komme nicht mehr heraus. Bitte hilf mir!" rief Osebo, der Leopard.
"Nein, nein! " antwortete der Spinnenmann. "Sowie du oben bist, frisst du mich doch auf."
"Gewiss nicht!" rief Osebo, der Leopard. "Damit würde ich doch eine gute Tat mit einer bösen vergelten - das mache ich nicht l"
"Nun gut", meinte Anansi, "dann
will ich versuchen, dir herauszuhelfen. Es wird allerdings nicht so
einfach gehen. Ich will diese Liane hier über einen starken Ast werfen
und dir die Vorderpfoten daran festbinden. So kann ich dich dann in die
Höhe ziehen. Strecke mir also deine Vorderpfoten entgegen, damit ich sie
an der Liane befestige!"
Osebo hielt ihm seine Vorderpfoten
hin, und Anansi band sie mit der Liane fest zusammen. Dann aber holte
er sein Messer hervor und ließ es blitzschnell auf den Kopf des
Leoparden herabsausen. "Gao!" klang der Hieb des Messers.
Anansi brachte den Leoparden vor
Nyamis Thron. Der legte seine Hand auf den Leoparden und sprach: "Was
meine Hand berührt hat, das hat sie berührt. Was meine Hand noch nicht
berührt hat, das fehlt noch!"
Anansi nickte und kletterte zur
Erde zurück. Er ging, wieder zu seiner Frau Aso und sagte: "Nun muss ich
Moboro, die Hornisse, zum Himmel bringen. Weißt du mir einen Rat?"
Aso überlegte ein wenig, dann antwortete sie: "Nimm eine große Kalebasse."
"Danke, das genügt", sagte Anansi. "Ich weiß jetzt, was ich zu tun habe."
Er nahm eine große Kalebasse, machte oben ein Loch und höhlte sie aus. Dann fertigte er einen Stöpsel für das Loch.
Er ging mit der Kalebasse zum
Fluss, füllte sie mit Wasser und pflückte ein großes Bananenblatt. Mit
all dem ging er dann zu dem großen Hornissennest. Die Hornissen flogen
ein und aus, er hörte ihr tiefes Brummen und sah ihre langen Stacheln.
Anansi nahm die Kalebasse und
spritzte ein wenig, Wasser aufs Hornissennest und aufs Bananenblatt.
Dann goss er sich den Rest über den Kopf und rief: "Moboro! Die
Regenzeit ist gekommen! Ich bin bereits bis auf die Knochen durchnässt!
Du musst Schutz suchen. Krieche in meine Kalebasse hier, da bist du
sicher vor dem Regen!"
Und Moboro, die Hornisse, kam
herangeflogen und kroch durch das Loch in die Kalebasse. Sogleich setzte
Anansi den Stöpsel ein. "Famm!" klang der Stöpsel, und Moboro war
gefangen.
Anansi brachte sie zum Himmel.
Nyami legte seine Hand auf die Kalebasse und sprach: "Was meine Hand
berührt hat, das hat sie berührt. Was meine Hand noch nicht berührt hat,
das fehlt noch!"
Anansi nickte und kehrte zur Erde
zurück. Er ging zu seiner Frau Aso und sagte: "Nun muss ich noch
Mmoatia, die unsichtbare Fee, zum Himmel bringen. Weißt du mir einen
Rat?"
Die Spinnenfrau überlegte eine Weile, dann antwortete sie: "Mache eine Puppe."
"Danke, das genügt", sagte Anansi. "Ich weiß nun, was ich zu tun habe."
Er machte eine Puppe und
befestigte eine lange Liane an ihrem Kopf, so dass sie nicken konnte,
wenn er daran zog. Er setzte die Puppe an einen Baum am Rande einer
kleinen Lichtung, legte ihr süße Yamswurzeln in den Schoß und strich die
ganze Puppe mit klebrigem dunklem Honig ein. Dann nahm er das freie
Ende der Liane und verbarg sich im Gebüsch.
Es war ein völlig windstillen Tag.
Plötzlich aber bewegten sich einige Gräser, Blätter und Zweige, als
striche ein leiser Windhauch durch den Urwald. Doch es war kein Wind,
sondern es war Mmoatia, die unsichtbare Fee, die sich näherte, um die
Puppe zu betrachten.
Als sie die süßen Yamswurzeln erblickte, fragte sie: "Sind diese Leckerbissen für mich, Kleines?"
Anansi zog an der Liane, und die Puppe nickte.
Da freute sich Mmoatia, die unsichtbare Fee, und aß die Yamswurzeln auf.
"Danke, Kleines!" sagte sie dann. Die Puppe sag regungslos da.
"Danke, Kleines!!" wiederholte die Fee. Die Puppe rührte sich nicht.
Die Fee wurde zornig. "Kleines,
ich spreche mit dir!" rief sie. "Wenn du mir nicht sofort antwortest,
werde ich dich schlagen!" Doch die Puppe blieb stumm, und so schlug sie
Mmoatia voller Wut. "Pal" klang der Schlag der Fee.
Aber sie blieb mit ihrer Hand am
Honig kleben. Nun schlug sie sie mit der zweiten Hand, aber auch die
blieb kleben. Rasend vor Wut trat sie die Puppe mit dem rechten Fuß und
blieb kleben. Sie trat sie mit dem linken - da steckte auch der fest.
Schließlich drückte sie ihren Bauch gegen die Puppe, und nun war sie
vollständig gefangen.
"Oho!" rief Anansi. "Nun habe ich auch dich!"
Er brachte die Puppe mit der unsichtbaren Fee zu Nyami. Der Himmelsgott legte seine Hand auf die Puppe und nickte.
Er gab Anansi die große Kiste, in
der sich alle Märchen und Geschichten befanden, und der Spinnenmann trug
sie zur Erde. Er brachte sie in sein Dorf, stellte sie auf den großen
Platz und rief alle Dorfbewohner zu einem Fest zusammen. Dann tanzte er
voller Freude rings um die Kiste und erzählte allen, wie er sie
errungen.
Und dann öffnete Anansi die Kiste.
"Huiii!" flogen alle Märchen und Geschichten heraus. Einige erhaschte
Anansi, ein paar andere seine Frau Aso, einige andere die übrigen
Dorfbewohner. Die meisten aber flogen weit davon und verbreiteten sich
über die ganze Welt. Eine davon habt ihr gerade gelesen.
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