Warum der Kolibri der König der Tiere ist
Als der alte König der Tiere, der
Löwe, gestorben war, versammelten sich alle Tiere im Wald, um einen
neuen Herrscher zu bestimmen. Ihres Sieges gewiss, warben die stärksten
Tiere um die Gunst der dicht gedrängten Menge. Der Elefant rühmte seine
Kraft und prahlte, dass er mit seinem Rüssel die dicksten Bäume
ausreißen könne.
"Was bedeutet es schon, einen wehrlosen Baum zu entwurzeln", meldete sich der Tiger zu Wort.
"Viel wichtiger ist es doch, dass
man im Kampf seine Stärke beweist. Für mich ist es ein leichtes, mit
einem einzigen Prankenhieb einen Dickhäuter in die Knie zu zwingen. Wenn
ihr ein starkes Tier zu eurem König machen wollt, dann wählt mich."
"Halt, halt", rief das Nashorn. "Ich bin stärker als dieser elende Wurm."
Knuffend und stoßend bahnte es
sich einen Weg zu dem in der Mitte des Platzes stehenden Königsthron und
wandte sich wutschnaubend an die unübersehbare Schar.
"Der Tiger ist ein Prahlhans. Ich
habe schon mindestens hundert von seiner Sorte mit meinem Horn
aufgespießt. Das stärkste Tier bin ich, liebe Freunde. Wählt mich zu
eurem König."
Obwohl das Nashorn von vielen
Tieren wegen seiner großen Kraft bewundert wurde, war es doch recht
unbeliebt und fand nur wenige Anhänger. Zornig trottete es davon und
überließ die Menge ihrem Schicksal. Mit mächtigen Schwingen hob sich nun
der Adler vom Boden und flog über die Köpfe der zahllosen Tiere hinweg
zu dem verwaisten Königsthron.
Als der Lärm verstummt war, rief
er stolz erhobenen Hauptes: "Ich bin nicht nur stark, ich kann auch
fliegen. Ich will euch deshalb einen Vorschlag machen. Lasst uns
dasjenige Tiere zu unserem König krönen, das es versteht, sich am
Höchsten in die Lüfte zu erheben."
Die majestätische Haltung des
Adlers gefiel den anderen Tieren, und so jubelten sie ihm begeistert zu
und riefen: "Der Adler fliegt am Höchsten! Es lebe der König! Er ist
unser neuer König! Er lebe hoch!"
Während die Menge dem neuen
Herrscher ihre Huldigung erwies, flog der kleine Kolibri zum Königsthron
und sagte zu seinem großen Bruder: "Du hast eben gesagt, dass derjenige
König werden soll, der es versteht, sich am Höchsten in die Lüfte zu
schrauben."
"Ja, das waren meine Worte", erwiderte der Adler.
"Dann beweise uns, dass du
wirklich der beste Flieger unter den Vögeln bist. Erst dann werde ich
dich als unseren König anerkennen."
"Meine Freunde", rief daraufhin
der Adler der immer noch jubelnden Menge zu, "der Kolibri glaubt, dass
er höher fliegen könne als ich. Wenn er dazu wirklich im Stande sein
sollte, dann mag er auch König werden."
Elefant und Krokodil, Tiger und
Leopard der Hase und die Schildkröte und die vielen anderen Tiere
brachen in spöttisches Gelächter aus und forderten den Kolibri auf, mit
dem Adler um die Wette zu fliegen.
"Ich bin bereit", piepste der Kolibri. "Wo wollen wir los fliegen?"
"Von der Kokospalme dort drüben", entgegnete der Adler und flog seinem kleinen Gegner voraus.
Der listige Kolibri ließ sich auf
einem Ast nieder, der genau über seinen großen Bruder herab hing. Als
der Hase das Zeichen zum Wettflug gegeben hatte, sprang er unbemerkt auf
den Rücken des Adlers und entschwand mit ihm in die Lüfte. Die auf der
Erde zurückgebliebenen Tiere, die nur den Adler sehen konnten, raunten
einander zu: "Der Kolibri muss hoch über dem Adler fliegen, sonst
könnten wir ihn sehen."
Indessen schraubte sich der
mächtige Adler immer höher in die Lüfte und flog geradewegs der Sonne
entgegen. Und weil er von seinem listigen Gegner noch nichts gesehen und
gehört hatte, glaubte er, der Sieg sei ihm gewiss.
"Der Kolibri wird wohl immer noch
auf der Palme sitzen und seine Herausforderung bereuen", sagte er vor
sich hin und versuchte, noch höher in den strahlend blauen Himmel
vorzustoßen. Da er der Sonne immer näher kam, wurde ihm plötzlich so
heiß, dass er erschrocken rief: "Wenn ich noch höher fliege, werde ich
verbrennen. Ich muss zur Erde zurück."
Diese Worte waren das Zeichen für
den auf seinem Rücken kauernden Kolibri. Er erhob sich frisch und leicht
von seinem Bruder hinab: "Glaubst du nun immer noch, dass du am
Höchsten fliegen kannst?"
Der Adler glaubte seinen Ohren
nicht zu trauen, als er über sich das ihm wohlbekannte Stimmchen
vernahm. Er versuchte mit letzter Kraft, sich zu dem munter
dahinfliegenden Kolibri empor zu schrauben, konnte ihn jedoch nicht
erreichen; denn der flinke kleine Vogel hatte seine Kräfte aufgespart.
In einem rasenden Sturzflug ließ der Adler sich schließlich zur Erde
fallen und flog dann mit hängenden Fittichen zu der hohen Kokospalme,
von der aus der Kampf begonnen hatte. Da die Tiere mit großer
Aufmerksamkeit den Flug der beiden ungleichen Rivalen beobachtet hatten,
war ihnen der Sieg des kleinen Kolibris nicht entgangen. Sie empfingen
deshalb den mächtigen Adler mit Hohn- und Spottgelächter und begrüßten
den langsam eintrudelnden Kolibri mit großem Jubel.
"Der Kolibri ist unser König", scholl es aus unzähligen Tierkehlen. "Es lebe der König!"
Während sich der neue Herrscher
unter dem Beifall der Menge auf den prächtigen Elfenbeinthron
niederließ, rauschte der Adler wütend davon.
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